- Volume 78 (2022)
- Vol. 78 (2022)
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- Issue 2
- No. 2
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- Pages 293 - 313
- pp. 293 - 313
Cyprian Norwid und die slavische Rassentheorie
In den letzten Jahrzehnten seines Lebens wurde der polnische Dichter Cyprian Norwid auf die Rassentheorie aufmerksam, eine damals aufkommende Pseudowissenschaft, und kommentierte sie ausführlich in seiner Korrespondenz. In dieser Zeit, zum Höhepunkt des europäischen Imperialismus, wurden Rassenhierarchien und Rassentheorien zunächst zur Verteidigung der europäischen Kolonialreiche entwickelt. Gleichzeitig bestimmten europäische Intellektuelle die Rolle und den Platz der „slavischen Stämme“ auf dem europäischen Kontinent, indem sie die „rassischen“ Ursprünge und die Einheit der Slaven untersuchten. Dieser Beitrag befasst sich mit Cyprian Norwids Verständnis von der Einheit Europas anhand seiner Rezeption der slavischen Rassentheorie. Von besonderem Interesse ist dabei seine Beziehung zu Franciszek Duchiński, einem prominenten polnischen Ethnographen, Politiker und Rassentheoretiker. Ausgehend von der Korrespondenz zwischen Norwid und Duchiński, ihren Publikationen und anderen einschlägigen zeitgenössischen Werken verortet der Artikel Norwid im breiteren Kontext der europäischen Geistesgeschichte der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die These lautet, dass Norwid die Idee einer rassischen Einheit Europas ablehnte und Europa stattdessen in erster Linie als intellektuelle Tradition verstand.