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Russian (Non-)Answers to (Post-)Colonial Questions

Mark Lipovetsky


Seiten 23 - 37



Der vorliegende Beitrag untersucht die Querverbindungen zwischen dem Diskurs des späten sowjetischen Nonkonformismus und dem intellektuellen Imperialismus, wie er bei der Wheatland-Konferenz in Lissabon 1988 von Tat’jana Tolstaja und anderen russischen (gleichermaßen sowjetischen wie außersowjetischen) Schriftstellern artikuliert wurde. Die Gäste aus der Sowjetunion (neben Tolstaja auch Anatolij Kim und Lev Anninskij) und die Emigranten (Iosif Brodskij, Zinovij Zinik) vertraten unisono die programmatische Abkapselung der Autorinnen und Autoren von jeglicher politischer Agenda und dem gesellschaftlichem Kontext als Grundvoraussetzung für ihre innere Freiheit. Diese Haltung hatte sich in nonkonformistischen Zirkeln als Reaktion auf die sowjetische ideologische Anforderung an die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, sich aktiv politisch zu engagieren, herausgebildet. Sie waren von der Doktrin des Sozialistischen Realismus erhoben worden und wurden auch von Autorinnen und Autoren, die das Gegenbild des Sozialistischen Realismus, nämlich eine antisowjetische, aber nichtsdestoweniger ideologiegebundene Literatur repräsentierten, stillschweigend geteilt. An der zentralen Frage der Debatte in Lissabon, der Verantwortlichkeit der russischen Kultur für die imperialistische Unterdrückung Ostmitteleuropas, entpuppten sich die kolonialistischen Grundannahmen auch der nonkonformistischen Haltung. In diesem Aufsatz werden die beiden rhetorischen Prinzipien herausgearbeitet, welche die Unabhängigkeit der nonkonformistischen Autorinnen und Autoren gegenüber der Politik mit der stillschweigenden Rechtfertigung des russischen Imperialismus verknüpften. Diese Prinzipien sind 1) die Bewertung von historischem Leiden als Beleg für die Größe Russlands und seiner Kultur; die angebliche Unabhängigkeit von der sowjetischen Politik legt dabei die Identifikation mit der russischen Geschichte in Form der durch den sowjetischen Staat zugefügten Leiden nahe; 2) das imperialistische Konzept von russischer Sprache und Literatur als allumfassender Entitäten; die Einbettung der jeweiligen Autorin oder des jeweiligen Autors in ihre / seine Sprachbedingungen impliziert einen imperialistischen Vorrang der russischen Kultur vor ‚kleineren‘ Nationen. Diesen hatten offenbar nonkonformistische wie offizielle Schriftstellerinnen und Schriftstellern gleichermaßen eifrig internalisiert.

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